schweizerische Literatur.

schweizerische Literatur.
schweizerische Literatur.
 
Der übergreifende Versuch, mit einem nationalen Attribut die kollektive Identität einer Literatur zu konstituieren, ist für die schweizerische Literatur besonders problematisch: sie existiert aus sprachlichen und territorialen Gründen in vierfacher Verteilung mit geringem Binnenkontakt und zugleich mit vielfältigen außernationalen Beziehungen, die bereits in den Sprachen manifest sind, die sowohl in der Schweiz als auch in den sie umgebenden Ländern gesprochen werden. Schweizerische Literatur ist weder aus territorialer, noch aus sprachlicher noch aus kultureller Einheit heraus zu begreifen, sondern allein aus der Zugehörigkeit ihrer Teile zu der politischen Einheit Schweiz.
 
 Die Literatur der deutschen Schweiz
 
Ihre Vorrangstellung im schweizerischen Raum verdankt die deutschsprachige schweizerische Literatur der historischen, politischen, kulturellen und zahlenmäßigen Dominanz der Deutschschweizer im nationalen Rahmen. In den historisch führenden deutschschweizerischen Kantonen entstand ein schweizerisches Nationalbewusstsein, das sich nach und nach auf die anderen Sprachgebiete der Schweiz übertrug beziehungsweise von diesen aktiv aufgenommen wurde. Auch in der deutschsprachigen Schweiz stand dieses Bewusstsein nicht am Ursprung ihrer Literatur, sondern ist allenfalls einer ihrer historischen Faktoren. Als möglicher Ausgangspunkt kann man die Kulturlandschaft und die geistigen und wirtschaftlichen Zentren des oberrheinisch-alpenländischen Raumes im Mittelalter nehmen, von denen wichtige Impulse für das Werden des kulturellen Lebens der späteren Schweiz ausgingen.
 
 Früh- und Hochmittelalter
 
In althochdeutscher Zeit entstanden im Kloster Sankt Gallen, einem der frühesten und angesehensten geistig-geistlichen Zentren, Übersetzungen und Glossierungen lateinisch-christlicher Literatur, unter denen die Psalmenübertragungen Notkers III. herausragen. Im Umkreis der Klöster entstanden volkssprachliche Sprichwörtersammlungen und Mysterienspiele, aber auch Texte aus dem Bereich der klösterlichen Wissensvermittlung. Im Hochmittelalter trat neben der Geistlichkeit auch der Dienstadel, die Ministerialität, als Literaturträger hervor; aus seiner Schicht stammten meist die Schöpfer der beiden wichtigsten Gattungen zeitgenössischer weltlicher Literatur, Minnesang und höfisches Epos, geographisch im Spannungsfeld zwischen den Einflusssphären der Zähringer- und Stauferherrschaft, ästhetisch unter dem Eindruck der von Frankreich bestimmten ritterlich-höfischen Kultur. Als einer der frühesten und bedeutendsten Vertreter aus dem oberdeutschen Sprachraum ist hier Hartmann von Aue für die Zeit von 1160/65 bis etwa 1210 zu nennen; um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert schrieb der Thurgauer Ulrich von Zatzikhoven seinen »Lanzelet«. In Straßburg und Basel lebte und wirkte im Dienste geistlicher und patrizischer Auftraggeber Konrad von Würzburg, einer der produktivsten und literarisch vielseitigsten mittelhochdeutschen Dichter des späten 13. Jahrhunderts. An der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert war in Zürich ein an Minnelyrik interessierter Kreis von hohen Geistlichen und Stadtadeligen um Rüdiger II. Manesse (✝ 1304) tätig, der sich v. a. der Sammlertätigkeit widmete, aus der dann die bedeutendste und prachtvollste Sammlung mittelalterlicher Lyrik, der »Codex Manesse« (Manessische Handschrift), hervorging. Unter den hier überlieferten Dichtern stellen die schweizerischen Minnesänger die bedeutendste Gruppe dar (rd. 20 %); zu nennen sind neben dem vom Manesse-Kreis geförderten J. Hadloub der Westschweizer Rudolf von Fenis sowie Ulrich von Singenberg, Walther von Klingen und Steinmar. Ältestes dramatisches Werk der schweizerischen Literatur ist das Osterspiel von Muri.
 
 Vom Spätmittelalter bis zum 17. Jahrhundert
 
Interessantestes Werk der spätmittelalterlichen Literatur aus dem alemannischen Sprachraum ist das satirische Epos »Der Ring« von H. Wittenwiler. Die umfangreiche, in nur einer Handschrift (um 1410) überlieferte vielschichtige Dichtung, die als »negative Didaxe« (Lehre) mit vielen allegorischen Elementen und grotesken Überzeichnungen konzipiert ist, blieb ohne Nachahmer. Am Anfang der erzählenden Prosaliteratur stehen der Roman »Melusine«, Prosaadaption eines französischen höfischen Epos, von dem Berner Thüring von Ringoltingen sowie die Übersetzungen des Humanisten Niklas von Wyle (2. Hälfte 15. Jahrhundert). Die geistliche Literatur hatte bereits durch den Mystiker H. Seuse mit seinem empfindsam-lyrischen Werk neue Impulse erhalten (zahlreiche, im 14. Jahrhundert aufgezeichnete »Schwesternviten« aus den Klöstern Töss bei Winterthur, Oetenbach bei Zürich und Sankt Katharinenthal bei Diessenhofen). Erbaulich-lehrhaftes Schrifttum außerhalb der mystischen Tradition entstand u. a. mit dem Marienleben Walthers von Rheinau (Anfang 14. Jahrhundert), den geistlichen Liedern des Heinrich von Laufenberg (Anfang 15. Jahrhundert), mit dem allegorischen »Schachzabelbuch« Konrads von Ammenhausen und dem »Edelstein« (1461), einer Fabelsammlung des Berner Dominikaners U. Boner. Neben das eine reiche Formenvielfalt entwicklende geistliche Drama (u. a. »Lazarus«, anonym, um 1529) trat im weltlichen Bereich das seit dem 15. Jahrhundert nachweisbare Fastnachtsspiel, das später P. Gengenbach und N. Manuel zu Tendenzstücken im Dienst der Reformation gestalteten. Zur Aufwertung der Volkssprache und zur Entwicklung einer oberdeutsch geprägten Literatursprache trug entscheidend die Bibelübersetzung von U. Zwingli bei, die durch das neue Instrument des Buchdrucks schnell verbreitet wurde. Dies gilt auch für die Flugschriften und Lieder, deren sich die reformierten, aber auch die katholischen Autoren, wie der zeitweise in der Eidgenossenschaft wirkende Elsässer T. Murner und der Innerschweizer H. Salat, als Mittel im Glaubenskampf und in der politischen Auseinandersetzung bedienten. Das sich seit den Burgunderkriegen verstärkt artikulierende ständisch-nationalistische Bewusstsein begann sich nun auch literarisch niederzuschlagen, so im Volkslied (»Altes Tellenlied«, etwa 1477) und im Drama, im »Urner Tellenspiel« (entstanden 1512) und in den gegenwartskritischen und vergangenheitsverklärenden Dramen J. Rufs, in »Lucretia und Brutus« (1533) von Zwinglis Nachfolger H. Bullinger, aber auch in der Chronistik (Petermann Etterlin, * um 1430/40, ✝ etwa 1509; Melchior Russ, * um 1450, ✝ 1499; Diebold Schilling dem Älteren, * 1430, ✝ 1486; Diebold Schilling der Jüngere, * 1460, ✝ 1516; J. Stumpf und A. Tschudi), wo die - modern anmutende - Auswertung urkundlicher Quellen mit der zum Teil kritiklosen Tradierung nationaler Mythen (z. B. der sagenhaften Herkunft der Helvetier) eine interessante Synthese eingegangen ist. Andererseits aber war z. B. der in Basel wirkende S. Brant, neben J. Wimpheling und J. Geiler von Kaysersberg Hauptvertreter des oberrheinischen Frühhumanismus, noch ganz vom mittelalterlichen Reichsgedanken erfüllt. Mit seiner Universität und dem international bedeutenden Buchdruckergewerbe wurde Basel zu einem Zentrum des europäischen Humanismus. Hier wirkten u. a. Erasmus von Rotterdam, T. Platter sowie Paracelsus, der die ersten deutschsprachigen Vorlesungen an einer Universität hielt.
 
Kunst- und Sinnenfeindschaft des orthodoxen Kalvinismus und die Dominanz des Französischen als Literatursprache der Oberschicht prägten die kulturelle Situation des 17. Jahrhunderts; nach der vielseitigen Literatur des 16. Jahrhunderts blieb der dichterische Ertrag der Barockzeit eher dürftig. In den katholischen Orten setzte sich die Tradition des geistlichen Spiels fort, zunehmend jedoch nicht mehr als Volksspektakel auf den Plätzen, sondern als didaktisches Schuldrama, wie beispielsweise in den Stücken des zeitweilig in Freiburg wirkenden deutschen Jesuiten J. Gretser. Vereinzelte literarische Beziehungen bestanden zu den deutschen Sprachgesellschaften. Johann Wilhelm Simler (* 1605, ✝ 1672) war in seinen Gedichten M. Opitz verpflichtet, Johann Kaspar Weissenbachs (* 1633, ✝ 1678) dramatische Moritat »Eydgenösssisches Contrafeth auff- und abnemmender Jungfrawen Helvetiae« (1673) verkörperte eine Art schweizerischen Marinismus. Als kluge Satire schweizerischer Zustände des 17. Jahrhunderts erschien 1638 die Reisebeschreibung von Hans Franz Veiras (* 1576/77, ✝ 1672); bereits aufklärerische Tendenzen werden in Johannes Grobs (* 1643, ✝ 1697) Flugschrift »Treugemeinter Eydgenössischer Auffwecker« (1688) deutlich. Religiös motiviert war Gotthard Herdeggers (* 1666, ✝ 1711) Kritik an der barocken Schwülstigkeit zeitgenössischer Romane.
 
 18. Jahrhundert: Die Literatur der Aufklärung
 
In der Aufklärung erreichte die deutschsprachige schweizerische Literatur einen Höhepunkt europäischer Ausstrahlung. A. von Haller richtete - als einer der wichtigsten Lyriker der deutschsprachigen Frühaufklärung - die Literatursprache am Ideal einer deutschen Hochsprache aus (»Versuch Schweizerischen Gedichten«, 1732) und legte mit der Versdichtung »Die Alpen« (1732) das Fundament für ein neues literarisches Naturgefühl wie für ein neues Schweizbild. Als Literaturreformer zunächst im Sinne J. C. Gottscheds, bald aber als dessen erbittertste Gegner, wirkten in Zürich J. J. Bodmer und J. J. Breitinger. Den Normen des französischen Klassizismus setzten sie das Prinzip des Wunderbaren und die englischen Vorbilder (J. Milton, S. Richardson u. a.) entgegen. In ihren Zirkeln trafen sich die (späteren) Größen des literarischen Zürich, u. a. der Fabeldichter L. Meyer von Knonau, J. G. Sulzer, J. K. Lavater, S. Gessner sowie J. H. Pestalozzi. Aus gewandelter Natursicht - durch Haller vorbereitet und durch J.-J. Rousseaus Ideen vertieft - und einem auf das Nationale gerichteten Geschichtsverständnis erwuchs so ein neues helvetisches Bewusstsein (v. a. durch Bodmers Studien und patriotischen Dramen). Noch vor Schiller entstanden die Tell-Dramen Samuel Henzis (* 1701, ✝ 1749), Bodmers, Zimmermanns und Johann Ludwig Ambühls (* 1750, ✝ 1800); 1786 erschien der erste Band der »Geschichten der Schweizerischen Eidgenossenschaft« (5 Bände, 1786-1808) des Johannes von Müller, eine wichtige Quelle für Schillers »Wilhelm Tell« (1804). Lavater dichtete seine »Schweizerlieder« (1767) für die »Helvetische Gesellschaft«, wo auch der Basler Aufklärungsphilosoph I. Iselin sowie Pestalozzi verkehrten. Bei allem Patriotismus behielt die »schweizerische Aufklärung« doch immer einen kosmopolitischen Charakter: Haller, der sich bemühte, in der Sprache jede Reminiszenz an seine Herkunft zu tilgen, lehrte von 1736 bis 1753 in Göttingen, Lavater gab seinen patriotischen Dichtungen eine allgemein menschliche Perspektive, Iselin (»Philosophische Muthmaßungen über die Geschichte der Menschheit«, 2 Bände, 1764, neu bearbeitet 1768 unter dem Titel »Über die Geschichte der Menschheit«) wurde zum bedeutenden Mittler zwischen französischer und deutscher Aufklärung, Gessners Schäferdichtung wirkte weit über den deutschen Sprachraum hinaus, die Naturlyrik von J. G. von Salis-Seewis war stark durch die zeitgenössische deutsche Literatur inspiriert; Sulzer verfasste als Professor in Berlin die lexikalische Summe der deutschen Aufklärungsästhetik, Zimmermann machte im Ausland eine glänzende Karriere, Johannes von Müller wirkte an den Höfen von Mainz, Wien, Berlin und Kassel. Außerhalb aller literarischer Zirkel entdeckte U. Bräker die Werke Shakespeares für sich und schrieb mit »Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg« (1789) eine für die gesamte deutschsprachige Literatur wichtige Autobiographie. Als »Volksaufklärung« wirkte die Spätaufklärung in der Schweiz wesentlich länger, v. a. im pädagogischen und literarischen Werk Pestalozzis, das noch auf H. Zschokke und J. Gotthelf Einfluss ausübte.
 
 Erste Hälfte des 19. Jahrhunderts: Biedermeier und Realismus
 
Die »schweizerische Romantik« blieb episodisch. Sie zeigt sich im Volkslied sowie in einzelnen Prosawerken wie in der märchenhaften Erzählung (z. B. bei Susanna Ronus, Pseudonym Selma, * 1769, ✝ 1835, und in Rudolf Meyers, * 1791, ✝ 1833, »Der Geist des Gebirges«, 1831). Gegenüber dem 18. Jahrhundert ist die Literatur des beginnenden 19. Jahrhundert in der Schweiz zugleich realistischer und provinzieller. Mit dem Interesse am Provinziellen war das Interesse an der Mundart verbunden, die von den Luzerner Pfarrherren Josef Ineichen (* 1745, ✝ 1818), Jost Bernhard Barnabas Häfliger (* 1759, ✝ 1837), dem Oltner Alois Franz Peter Glutz-Blotzheim (* 1789, ✝ 1827) sowie den Bernern Gottlieb Jakob Kuhn (* 1775, ✝ 1849) und J. R. Wyss, den Begründern und Herausgebern (1811-1830) der Zeitschrift »Alpenrosen« für ihre Gedichte und Lieder im Volkston, einer eigentlichen »Folklore von oben«, verwendet wurde; auch der Volkslieddichter und Sagensammler Josef Anton Henne (* 1798, ✝ 1870) ist hier zu nennen. Aus der Sehnsucht nach Idylle in einer unruhigen Gegenwart entstanden die historischen Erzählungen von Johann Konrad Appenzeller (* 1775, ✝ 1850), Anna Rothpletz (Pseudonym Rosalie Müller, * 1786, ✝ 1841) sowie die Werke der Zürcher David Hess (* 1770, ✝ 1843), U. Hegner und J. M. Usteri, wobei Letzterer wie später Wilhelm August Corrodi (* 1826, ✝ 1885) auch mundartliche Idyllenpoesie aus dem ländlichen Bürger- und Bauerntum verfasste, während bei F. X. Bronner die Idylle in die Dorfgeschichte überging. In dieser Gattung brillierten auch Kuhn und Wyss sowie nach ihnen zahlreiche schweizerische Autoren des 19. Jahrhunderts, als bedeutendster unter ihnen J. Gotthelf. V. a. aus volkskundlichem Interesse entstand die mundartliche Form der Dorfgeschichte, so bei dem Solothurner Sagensammler Franz Josef Schild (* 1821, ✝ 1889) und seinem Landsmann Bernhard Wyss (* 1833, ✝ 1880).
 
Jeder idyllische Tendenz entgegengesetzt war das zwischen 1835 und 1853 erschienene sechsbändige Werk »Gemälde aus dem Volksleben« des Autodidakten J. Stutz, ein Sittenbogen von fast naturalistischem Charakter. Trotz der Vielzahl von Volksschriftstellern hat im 19. Jahrhundert neben Stutz nur Gotthelf das Volksleben authentisch dargestellt. Auf das Vordringen der modernen Zivilisation reagierte er mit einer konservativ religiösen Haltung, die auch sein literarisches Werk beherrscht. Das Leben der Emmentaler Bergbauern war ihm gleichsam Naturform menschlicher Existenz, die es zu bewahren galt und die er - als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Erzähler des 19. Jahrhundert - mit homerischem Gestus gestaltete. Die Periode der Gründung des Bundesstaates (1848) war geprägt durch eine politische Polarisierung, die sich literarisch in Agitationsgedichten, Kalenderblättern und Pamphleten niederschlug. Auf konservativer Seite schrieben neben Gotthelf auch Johann Jakob Reithardt (* 1805, ✝ 1857) und Abraham Emanuel Fröhlich (* 1796, ✝ 1865). Zur gleichen Zeit wurde die deutschsprachige Schweiz zum Sammelpunkt der für den Vormärz charakteristische Widersprüche, zur Zuflucht für deutsche Flüchtlinge und zum Druckort demokratischer Literatur (so in dem von J. Fröbel 1841 gegründeten »Literarischen Comptoir Zürich und Winterthur«). In diesem politischen und literarischen Zusammenhang hat auch das frühe lyrische Schaffen G. Kellers seine Wurzeln.
 
 Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1918: Vom Realismus zur Heimat- und Mundartliteratur
 
Nach der Gründung des Bundesstaates (1848) legten sich die politischen Differenzen erstaunlich rasch. Es entstand eine eigentliche Versöhnungsliteratur, deren literarischer Höhepunkt und Abschluss Kellers »Fähnlein der sieben Aufrechten« (1861) war. Sein erzählerisches Werk blieb einem entschiedenen Demokratismus sowie einem auf L. Feuerbach gestützten diesseitigen Weltbild verbunden. Auf einzigartige Weise paart sich darin die Liebe zur Heimat mit dem scharfen Blick für die sozialen Konflikte seiner Gestalten, die mit tiefer Zuneigung, aber auch mit humoristischer oder satirischer Distanz geformt sind. Die Nähe zum Humanismus Goethes wird besonders im Entwicklungsroman »Der grüne Heinrich« (4 Bände, 1. Fassung 1854/55) erkennbar. Der veränderte Schluss der 2. Fassung (1879/80) - der Held nicht mehr als gescheiterter Künstler, sondern als mitwirkender Bürger - korrespondiert mit Kellers Lebensumständen als Stadtschreiber in Zürich. Dagegen dominieren im Altersroman »Martin Salander« (1886) die Besorgnisse angesichts der europäischen Entwicklung des Kapitalismus. Als Gegenpol zu Keller erscheint C. F. Meyer, der gleichfalls im gesamten deutschen Sprachraum wirkte; er gestaltete große historische Stoffe und monumentale Figuren. Der Roman »Jürg Jenatsch« (1876) verarbeitet noch einmal die schweizerische Nationalgeschichte, die späteren Novellen huldigen dem modischen Renaissancekult. Seine formstrenge Lyrik antizipiert bisweilen die Ästhetik des Symbolismus. In Leben und Dichtung ganz der Wirklichkeit entzogen hatte sich der dem »Münchner Dichterkreis« angehörende H. Leuthold; daneben wirkten weiterhin u. a. Ludwig Ferdinand Schmid (Pseudonym Dranmor, * 1829, ✝ 1888) und die um die Frauenemanzipation verdiente Meta von Salis-Marschlins (* 1855, ✝ 1929). Die Fortsetzung des historistischen Gedankens verkörperte J. Burckhardt; der schulebildende Kunsthistoriker trat auch als Mundartdichter einer Basler Dichtergruppe in der Hebel-Nachfolge hervor, zu der u. a. der Theologe Karl Rudolf Hagenbach (* 1801, ✝ 1874) und der klassische Philologe Jakob Mähly (* 1828, ✝ 1902) gehörten.
 
Der eigentliche dichterische Ertrag der Gründung des Bundesstaats war das Festspiel, das durch eine lange volkstümliche Spieltradition in der Nachfolge der geistlichen und weltlichen Dramen des Mittelalters und der Renaissance und durch die Bevorzugung des Volksfestes gegenüber dem Kunsttheater (u. a. durch Rousseau und Pestalozzi) als besonders schweizerisch galt; es erlebte Ende des 19. Jahrhunderts eine hohe Popularität, die auch namhafte Autoren wie C. A. Bernoulli, A. Frey und A. Ott - Letzteren merklich unter dem Einfluss des Meininger Theaters - anregte. Als im übrigen deutschen Sprachraum das literarische Leben nacheinander von den Neuerungen Naturalismus, Impressionismus und Symbolismus geprägt war, dominierten in der Schweiz Heimatkunst und traditionelles Erzählen. Das von der Heimatbewegung propagierte Bild eines einfachen Lebens in dörflicher Gemeinschaft oder in der Abgeschiedenheit der Bergwelt lieferte den Romanschriftstellern jener Zeit eine Fülle von Motiven. Vorgeprägt ist diese Idyllik bereits in Johanna Spyris »Heidi«-Romanen. Das Bild einer heilen Bergwelt brachte eine große Zahl seinerzeit sehr erfolgreicher Romane hervor (J. C. Heer, E. Zahn). Die Heimatbewegung nahm sich auch der Mundarten an, deren Aussterben angesichts von Industrialisierung und Verstädterung Ende des 19. Jahrhunderts befürchtet wurde. Zu ihrer Rettung begann man mit der Arbeit am »Schweizerischen Idiotikon« (Band 1 ff., 1881 ff.), dessen Wurzeln auf die Pionierarbeiten Franz Josef Stalders (* 1757, ✝ 1833) zurückgehen; man sammelte Sprachmaterial und gründete Sprachvereine, die einerseits die hochdeutsche Schriftsprache fördern, andererseits die Mundarten in möglichster Reinheit erhalten sollten; auch Jakob Senns (* 1824, ✝ 1879) »Chelläländer Schtückli« (1864) sind hier zu nennen. Die aus dieser Mentalität entstandene Mundartliteratur verstand sich als Ausdruck der Volksseele, mied den Einfluss aller modernen Strömungen und beschränkte sich auf einen schlichten Ton in liedhafter Lyrik, Erzählung und Volksstück. Dialektale Reinheit war unabdingbar, denn ihr unverwechselbarer Klang war selbst ein Stück des Besungenen und Beschriebenen. Daher findet sich diese Literatur in einer Vielzahl von regionalen Varianten: in berndeutscher Mundart bei Simon Gfeller (* 1868, ✝ 1943) und R. von Tavel, in solothurn. Mundart bei dem Erzähler und Lyriker Joseph Reinhardt (* 1875, ✝ 1957), bei Fritz Liebrich (* 1879, ✝ 1936) in baseldeutsch, bei Sophie Hämmerli-Marti (* 1868, ✝ 1942) in aargauischer und bei M. Lienert in Schwyzer Mundart. Mit dem von dem Berner Otto von Greyerz (* 1863, ✝ 1940) 1918 gegründeten Heimatschutztheater erlebten auch der Mundartschwank und das Volksstück eine Blüte (u. a. von Greyerz; A. Huggenberger; Dominik Müller, * 1871, ✝ 1953; Alfred Fankhausers, * 1890, ✝ 1973). Heimatliteratur verstand sich als Ausdruck einer neuen Nationalliteratur, zu deren Vätern sie v. a. Gotthelf und Keller erklärte. Diese breite epigonale Literatur reicht von den Bauern- und Kiltabendgeschichten des 19. Jahrhunderts (Alfred Hartmann, * 1814, ✝ 1897; Arthur Bitter, * 1821, ✝ 1872) zu Huggenberger und Gfeller; auch die Entwicklungsromane wie Walther Siegrieds (* 1858, ✝ 1947) »Tino Moralt« (1890) sowie die Ausmalung des Seldwyler Kosmos von Fritz Marti (* 1866, ✝ 1914) und H. Federers »Lachweiler Geschichten« (1911) gehören dazu. In der ästhetischen Tradition des 19. Jahrhunderts stehen auch noch die kritischen Heimatromane Moeschlins und J. Bossharts, während bei P. Ilg (»Der starke Mann«, 1917) naturalistische Einflüsse bemerkbar sind.
 
Völlig neue Töne für die schweizerische Literatur schlug um die Jahrhundertwende C. Spitteler an: In formvollendeten Epen suchte er der Wirklichkeit einen geistesaristokratischen Idealismus entgegenzusetzen. Die andere herausragende Gestalt der schweizerischen Literatur der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist R. Walser, der - allerdings erst nach seinem Tod (1956) - als bedeutender Repräsentant der Moderne entdeckt wurde. Ein früher Förderer sowohl Spittelers als auch Walsers war J. V. Widmann, einflussreichster schweizerischer Literaturkritiker der Jahrhundertwende.
 
 Von 1918 bis 1960
 
Der Erste Weltkrieg änderte zunächst wenig an der Bevorzugung heimatlicher Themen und konventioneller Erzählweisen. Obwohl der Dadaismus in Zürich entstanden war, hinterließ er in der schweizerischen Literatur kaum Spuren. Der vom Zürcher Literaturkritiker E. Korrodi geforderte Abschied von der Heimatliteratur und dem Leitbild Keller fand zwar bei der jungen Generation, u. a. J. Schaffner, A. Steffen, M. Pulver, R. Faesi, Anklang, wurde aber von Korrodi selbst schon einige Jahre später wieder zurückgenommen; die neuen Töne in der schweizerischen Literatur waren v. a. ein verspäteter Expressionismus, sozialkritisch im Erzählwerk von Charlot Strasser (* 1884, ✝ 1950), experimentell in der »Himmelpfortgasse« (1927) von Pulver, mit ungewöhnlicher Mischung von Bauernmilieu und expressionistische Stimmung im Roman »Die Brüder der Flamme« (1925) von Fankhauser sowie in den Romanen von O. Wirz; für die Lyrik sind die expressionistische Dichtung des früh verstorbenen K. Stamm, des später verstummten Konrad Bänninger (* 1890, ✝ 1981), die sozial engagierten Gedichte Leo von Meyenburgs (* 1886, ✝ 1936) sowie die von der »Poésie pure« beeinflusste Dichtung Langs und Werner Zemps (* 1906, ✝ 1959) zu nennen. Autoren wie Steffen, Regina Ullmann, Maria Waser und Cécile Lauber suchten in der Religion oder in der Natur, begriffen als Sinnbild einfachen Lebens, die Grundlage einer neuen Geistigkeit, bei Traugott Vogel (* 1894, ✝ 1975) bekam diese Suche unmittelbar zeitkritischen Charakter. Zeitkritische Züge trägt auch das Werk M. Inglins, das im gesamten deutschen Sprachraum verbreitet war.
 
Die Verengung des geistigen Klimas im Gefolge der »geistigen Landesverteidigung« und der Verlust des deutschen Marktes nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten brachte den kritischen und nonkonformistischen Schriftstellern Schwierigkeiten: Jakob Vetsch (* 1879, ✝ 1942), Hans Morgenthaler (* 1890, ✝ 1928), H. Marti, F. Glauser, Bernhard Diebold (* 1886, ✝ 1945), Hans Mühlestein (* 1887, ✝ 1969) und A. Turel, aber auch Cécile Ines Loos, die Reiseschriftstellerin Annemarie Schwarzenbach (* 1908, ✝ 1942) oder A. Zollinger blieben Außenseiter; der Aphoristiker L. Hohl, der wie Walser erst von einer neuen Generation in den 70er- und 80er-Jahren entdeckt werden sollte, verfasste sein literarisches Werk gleichsam im Exil im eigenen Land. Die politische Entwicklung in den 20er- und 30er-Jahren ließ einige Schriftsteller mit der politischen Linken sympathisieren, so Mühlestein, A. Ehrismann und J. Bührer, der durch den Eintritt in die sozialdemokratische Partei sein bürgerliches Publikum verlor. Elisabeth Gerter (* 1895, ✝ 1955) schrieb 1938 mit dem Roman »Die Sticker« den ersten bedeutenden schweizerischen Arbeiterroman.
 
Die Flucht vor dem nationalsozialistischen Regime führte zahlreiche deutsche und österreichische Schriftsteller in die Schweiz, einige blieben nur kurze Zeit, wie B. Brecht, C. Zuckmayer, F. Werfel, Else Lasker-Schüler und T. Mann, während sich andere in der Schweiz niederließen (u. a. R. Musil, G. Kaiser, H. Kesten, F. Hochwälder). Wenn es auch nur sehr begrenzt zu Kontakten mit einheimischen Schriftstellern kam - R. J. Humm in Zürich und Aline Valangin im Tessin hielten ein offenes Haus für deutsche Emigranten -, so kam es dennoch, v. a. am Zürcher Schauspielhaus, zu wichtigen, sich bis in die Nachkriegszeit auswirkenden Impulsen. Auch das politische Kabarett erlebte einen Aufschwung mit der »Pfeffermühle« Erika Manns und dem schweizerischen »Cabaret Cornichon« (Texter Max Werner Lenz, * 1887, ✝ 1973, und Walter Lesch, * 1898, ✝ 1958).
 
Das Jahr 1945 war für die schweizerische Literatur keine »Stunde null«. Im Zuge der »geistigen Landesverteidigung«, die weit über das Kriegsende hinaus nachwirkte, kam es zu einer Wiederbelebung der Heimatliteratur mit nationalschweizerischem Vorzeichen bei Autoren wie Reinhart, G. Renker oder J. M. Camenzind, es entstanden historische Romane mit schweizerischen Stoffen von Emanuel Stickelberger (* 1884, ✝ 1962) und Mary Lavater-Sloman. C. von Arx, meistgespielter Dramatiker dieser Jahre, nahm die Form des historischen Festspiels wieder auf. Auch die in Mundart geschriebene Heimatliteratur erlebte, aufbauend auf dem Formenschatz ihrer lokalen Vorbilder, eine neue Popularität, die in den Gotthelf-Hörspielen im Berner Dialekt von Ernst Balzli (* 1902, ✝ 1959) die größte Breitenwirkung erreichte. Weitaus weniger publikumswirksam war jene andere Heimatliteratur, die das überkommene Klischee konterkarierte, wie die in Form sapphischer Oden verfassten berndeutschen Mundartgedichte des engagierten Sozialpolitikers C. A. Loosli oder A. J. Weltis Dialektstück »Steibruch« (1939). Auch die traditionellem Erzählen verpflichtete Literatur der 30er-Jahre fand nach dem Krieg ihre Fortsetzung, so etwa in Faesis Trilogie »Die Stadt der Väter« (1941), »Die Stadt der Freiheit« (1944) und »Die Stadt des Friedens« (1952), ein konservatives Gegenstück zu J. Bührers »Im roten Feld« (3 Bände, 1938-51), in K. Guggenheims Romansumme über die Stadt Zürich in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts (»Alles in Allem«, 4 Bände, 1952-55) sowie in den autobiographischen »Öppi«-Romanen von A. Kübler.
 
Die entscheidenden literarischen Impulse für die schweizerische Literatur der Folgezeit gingen aber von anderen aus. Zu nennen sind hier v. a.: Zollinger (der durch seinen Sprachzauber das Romanschaffen des frühen M. Frisch anregte), Glauser (der mit seinen Kriminalromanen F. Dürrenmatt beeinflusste) und besonders Walser, dessen Werk u. a. P. Bichsel, Gertrud Leutenegger und J. Amman sowie A. Turel und H. Loetscher prägte. Wegweisend bereits in dieser Nachkriegsphase der schweizerischen Literatur waren Frisch und Dürrenmatt, deren frühes Theaterschaffen durch die Emigrantenbühne des Zürcher Schauspielhauses wichtige Anregungen erhalten hatte, die ihren Durchbruch bezeichnenderweise aber in der Bundesrepublik Deutschland schafften. Auf je eigene, zum Teil sogar entgegengesetzte Art ging bei beiden Zeit- und Welterfahrung in ein Werk ein, das immer wieder auf die Schweiz als Modell zur Darstellung gesellschaftlicher und geschichtlicher Vorgänge von allgemeiner Bedeutung Bezug nahm. Neben dem frühen Frisch und Dürrenmatt wirkten Autoren wie Alexander Xaver Gwerder (* 1923, ✝ 1952), R. Brambach, Urs Oberlin (* 1919), K. Raeber, Josef Vital Kopp (* 1906, ✝ 1966) und die in ihrer Kategorisierung als Heimatschriftstellerin verkannte Ruth Blum (* 1913, ✝1975), die zu ihrer Zeit kaum zur Kenntnis genommen wurden. Die Lyrik jener Zeit stand zunächst zwischen Tradition und Innovation (Urs Martin Strub, * 1906, ✝ 1990; Oberlin; M. Rychner), fand zu neuen Stoffen im Spätexpressionismus von Turel, zu Erneuerung in Stoff und Form bei Erwin Jaeckle (* 1909, ✝ 1997), H. Schumacher und H. R. Hilty. Vorläufer dieses Prozesses waren nach den Dadaisten (insbesonders H. Arp) die surrealistischen Gedichte der bildenden Künstler P. Klee, Meret Oppenheim und O. Tschumi sowie die von F. Wurm. Eine weitere Richtung markierte die von K. Krolow und J. Bobrowski beeinflusste Naturlyrik eines R. Brambach und Walter Gross (* 1924) sowie der bedeutenden Erika Burkart, deren Ausstrahlung auf junge Lyriker und Lyrikerinnen nach wie vor groß ist. Eine singuläre Erscheinung sind die geistlichen Lieder der Nonne Silja Walter.
 
 Von den Sechziger- bis zu den Neunzigerjahren
 
In den 1960er-Jahren trat eine neue Schriftstellergeneration an die Öffentlichkeit, mit der die schweizerische Literatur auch im internationalen Kontext neue Akzente setzte: Hintergründig-ironische Darstellung, oft satirischer Kritik an den Landsleuten und ihren Lebensformen kennzeichnen die Werke von Bichsel, Loetscher, A. Muschg, O. F. Walter, W. M. Diggelmann, J. Federspiel, J. Steiner, P. Nizon, H. Boesch, Herbert Meier und W. Vogt; die wenigen Frauen, die in dieser Zeit literarisch hervortraten, verarbeiteten meist autobiographische Erfahrungen, so Gertrud Wilker (* 1924, ✝ 1984), Erica Pedretti und Helen Meier. Parallel dazu etablierte sich eine neue Mundartliteratur, die im Dialekt nicht die Vertrautheit des heimatlichen Klangs, sondern die Fremdheit und das Befremden über ihren formelhaften Inhalt hervorhebt und als Kunstmittel einsetzt. Angeregt wurde diese Entwicklung (darin der österreichischen Literatur ähnlich) durch die (wesentlich von der Schweiz ausgehende) konkrete Poesie, besonders durch die Mundartgedichte E. Gomringers und die Arbeiten D. Roths. Sie beeinflussten z. B. Ernst Eggimann (* 1936) und Rolf Geissbühler (* 1941), K. Marti und P. Lehner. Ihre Formexperimente beförderten die Tendenz zu lakonischer Aussage und Wortspiel in der hochsprachlichen Lyrik (D. Fringeli) und strahlten auch auf die Liederbewegung um den Berner Troubadour Mani Matter (* 1936, ✝ 1972) und auf das Kabarett (F. Hohler) aus. Das literarische Leben der 60er-Jahre war geprägt von großen literarischen Fehden zwischen den traditionsverbundenen Schriftstellern und der neuen Generation. Erster Vorbote dafür war Guggenheims Schrift »Heimat oder Domizil? Die Stellung des deutschschweizerischen Schriftstellers« (1961) mit einer Attacke auf den literarischen Nihilismus. Im Zürcher Literaturstreit von 1966 verteidigten die Vertreter der neuen Schriftstellergeneration, darunter auch Frisch und Dürrenmatt, Offenheit, Zeitgenossenschaft und Realismus einer engagierten Literatur gegen die konservative Schelte des Germanisten E. Staiger. 1969 führte diese Polarisierung schließlich zur Spaltung des Schweizer Schriftstellerverbandes (SSV) und zur Gründung der »Gruppe Olten« (GO). Für die jüngeren Autoren wurden Frisch und Dürrenmatt zu wichtigen literarischen Leitbildern: Frisch zunächst mit dem Thema des Leidens an der Heimat (»Stiller«, 1954), essayistisch verarbeitet z. B. bei Nizon (»Diskurs in der Enge«, 1970), bei H. Burger, Muschg, F. Böni v. a. als individuelles Leiden an der Gesellschaft wieder aufgegriffen oder auf die Vergangenheitsbewältigung konzentriert wie in Diggelmanns »Die Hinterlassenschaft« (1965), H. Wiesners »Schauplätze« (1969) und W. Kauers »Schachteltraum« (1978), J. Steiners »Das Netz zerreißen« (1982), mit sprachkritischem Akzent bei U. Widmer. In die gleiche Richtung zielen auch Theaterstücke von Herbert Meier, Hansjörg Schneider und T. Hürlimann; bei Kauer, A. Honegger, S. Blatter und Beat Sterchi (* 1949, »Blösch«, 1983) mündete die Auseinandersetzung in eine neue Art des Heimatromans, der die Gefährdung dieser Heimat bewusst macht, bei Eveline Hasler (»Anna Göldin, letzte Hexe«, 1982) spiegelt sie sich im historischen Roman. Dürrenmatt wiederum wirkte durch seine phantasmagorische Darstellung der Schweiz, die ein Stück ihrer verborgenen Realität einholen sollte, auf Autoren wie Vogt und auf G. Späths barocke Schelmen- und Welttheaterromane, auf Burgers Roman(alb)träume zwischen rettendem Wahn und helvetischer Wirklichkeit, auf das erzählerische Werk von Hohler ebenso wie auf Federspiel, E. Y. Meyer und auf die Antiutopien Alex Gfellers (* 1947; »Das Komitee. Swissfiction«, 1983). Das kafkaeske Werk des zu seinen Lebzeiten kaum beachteten Lorenz Lotmar (* 1945, ✝ 1980) fand jetzt sein Publikum.
 
Kritische Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen Wirklichkeit der Schweiz finden sich auch in den Reportagen von Niklaus Meienberg und Federspiel. In der Literatur der »Werkstatt schreibender Arbeiter«, aus der E. Zopfi (»Jede Minute kostet 33 Franken«, 1977) hervorging, ist die Darstellung der Arbeitswelt, ähnlich wie auch bei Blatter und Rolf Niederhauser (* 1951) von der persönlichen Erfahrung geprägt, wie überhaupt die Einbeziehung des eigenen Erlebens und des Persönlichen in der Literatur der 70er-Jahre zunehmend wichtiger wurde. Voran ging auch hier Frisch mit »Montauk« (1975), dem dann programmatisch Gertrud Leutenegger (»Vorabend«, 1975) und Fritz Zorns (Pseudonym für Fritz Angst, * 1944, ✝ 1976) »Mars« (herausgegeben 1977) folgten. Gerhard Meiers und O. Marchis Romane sowie die Arbeiten Elisabeth Meylans gehören gleichfalls in diesen Kontext. Das realistische, auf Sozialkritik zielende Erzählen wurde von O. Steiger fortgeführt, auch Amanns biographische Novellistik hält sich an Fakten.
 
Seit den 70er-Jahren traten, nicht zuletzt durch gesellschaftlichen Paradigmenwechsel begünstigt, zunehmend Frauen mit neuem Selbstbewusstsein literarisch an die Öffentlichkeit: Verena Stefan (»Häutungen«, 1975, wurde zu einem Kultbuch der Frauenbewegung), Gertrud Leutenegger und Mariella Mehr (* 1947) gestalten in ihren Romanen innere und äußere Zerstörungen; Laure Wyss gibt in schlichter Lyrik ihrer reichen Lebenserfahrung Ausdruck, weiter zu nennen sind Maja Beutler (* 1936), Adelheid Duvanel, Margrit Baur (* 1937), Margrit Schriber und Hanna Johansen. Nach Vorläufern in den 60er-Jahren (Nizon; B. Brechbühl; C. Mettler, * 1936) entwickelte sich in den 70er-Jahren eine anspruchsvolle experimentelle Prosa, musikalisch durch Variation und Wiederholung bei G. Bachmann, rhythmisch vom Jazz beeinflusst bei J. Laederach, geprägt vom russischen Formalismus und Strukturalismus bei F. P. Ingold und ähnlich auch bei dem Semiotiker André Vladimir Heiz (* 1951).
 
Seit den 1980er-Jahren dominierte das Leiden an der Heimat nicht mehr in dem Maße das literarische Schaffen; die kritische Grundeinstellung der meisten Autoren zu ihrem Land änderte sich zwar nicht (sichtbar z. B. in Frischs »Schweiz ohne Armee? Ein Palaver«, 1989; als Drama unter dem Titel »Jonas und sein Veteran«, Uraufführung 1989, oder in den Romanen von Urs Faes), wurde aber wegen der offensichtlichen Folgenlosigkeit kaum noch diskutiert. Einige Autoren wandten sich zeitweise oder ganz von der Schweiz ab: Nizon schreibt in Paris, der Linguist W. Schenker lebt und wirkt in Trier, M. Zschokke und S. Huonder (* 1954) leben in Berlin, auch die frühen Romane des Soziologen U. Jaeggi sind geprägt vom Berliner Studenten- und Intellektuellenmilieu der 60er- und 70er-Jahre. Für Jaeggi, Muschg u. a. ist diese Entfernung auch eine Voraussetzung der (kritischen) Wiederannäherung an Heimat und Vergangenheit, für H. Burger, E. Y. Meier, H. Meier u. a. ist die Enge der Provinz nicht mehr Problem, sondern Anstoß, die Welt im Mikrokosmos zu entdecken. O. F. Walters »Jammers« oder G. Späths »Barbarswila« sind nicht nur Provinzorte, sondern Schauplätze eines prallen Welttheaters. M. Werner setzte der provinziellen Welt das Aussteigen aus allen konventionellen Beziehungen entgegen.
 
Die Mundartliteratur als gleichberechtigter Teil der schweizerischen Nationalliteratur hat sich seit den 80er-Jahren von den rein avantgardistischen (Sprach-)Spielereien gelöst. Sie zeigt sich nunmehr gleichermaßen provinznah wie provinzkritisch, etwa in den literarischen Monologen Ernst Burrens (* 1944) und Toni Schallers (* 1935). Ohne die früheren thematischen und sprachpuristischen Tabus dient sie als ein Instrument der Verbalisierung unmittelbarster Eindrücke und Beobachtungen bei so unterschiedlichen Autoren wie dem Nidwaldner Julian Dillier (* 1922, ✝ 2001), bei Martin Frank (* 1950), Sterchi und Peter Morger (* 1955).
 
 Seit den Neunzigerjahren
 
Die jüngste schweizerische Literatur deutscher Sprache ist vielstimmig: nach wie vor zeigt sich die auch problematisch gesehene Bindung vieler Autoren an die engere Heimat, so bei Blatter und K. Merz an den Aargau, bei P. Imhasly an das Wallis. Ein häufig aufgegriffenes Thema ist der Verlust von Freiräumen, die Unwirtlichkeit der Städte, so bei Isolde Schaad (* 1944) und Christoph Bauer (* 1956) und die schwindende Gewissheit um die Heimat, so in den Romanen von Hansjörg Schertenleib (* 1957) und Dominik Brun (* 1948). Die Unsicherheit der äußeren Welt erscheint einzig durch Kunst, v. a. aber durch Sprache erfassbar. Diese Tendenz der schweizerischen Literatur wird bereits in den 1980er-Jahren bei C. Geiser und R. Hänny sichtbar, in den 1990er-Jahren bestimmt sie die Prosa von B. Steiger, Alain Claude Sulzer (* 1953), Peter Stamm (* 1963), Ruth Schweikert (* 1965), Peter Weber (* 1968), Perikles Monioudis (* 1966), die Lyrik von K. Aebli und Christian Uetz (* 1963). Stilistisch Eigenständiges bringt die schweizerische Literatur der Gegenwart v. a. im Bereich des novellistischen Erzählens und der Kurzprosa hervor (so bei Hürlimann, M. R. Dean, U. Richle). Im gesamten deutschsprachigen Raum erfolgreich waren Milena Moser und Zoë Jenny mit Romanen, die - in unterschiedlicher Weise - um weibliche Lebenserfahrungen in der heutigen Welt kreisen. Thematisch und sprachlich neue Impulse führen jene Autoren zu, die, aus anderen Kulturen kommend, in deutscher Sprache schreiben: so André Kaminski (* 1923, ✝ 1991), der in seinem Bestseller »Nächstes Jahr in Jerusalem« (1986) die Geschichte seiner polnisch-jüdischen Familie verarbeitete, Dante Andrea Franzetti (* 1959), italienischer Abstammung, der in seinen Romanen historischen und kulturellen Zusammenhängen nachspürt.
 
 Französischsprachige Literatur
 
Die französischsprachige Schweiz ist im Rahmen der Frankophonie ein kulturell eigenständiges Gebiet, das allerdings bis heute in einer starken Spannung zwischen Annäherung an den dominanten Nachbarn Frankreich und Abgrenzung von diesem steht. Diese Spannung wird durch den Status der doppelten Minorisierung - kulturell gegenüber Frankreich, demographisch, politisch und wirtschaftlich gegenüber der deutschsprachigen Mehrheit in der Schweiz - verstärkt. Die französische Schweiz setzt sich aus drei ganz und drei zum Teil französischsprachigen Kantonen zusammen, die sich stark voneinander unterscheiden, zu einem je anderen Zeitpunkt der schweizerischen Eidgenossenschaft beitraten und eine spezifische kulturelle Tradition besitzen.
 
Das kulturelle Leben setzte im Gebiet der französischen Schweiz mit der Reformation ein, die aus Frankreich von G. Farel eingeführt wurde. J. Calvins Präsenz in Genf zog zahlreiche französischsprachige Reformatoren und Humanisten an (Pierre Robert, genannt Olivetan, * 1506, ✝ 1538; P. Viret, T. Beza u. a.) und beeinflusste auch andere Regionen der französischen Schweiz, deren Literatur bis mindestens zum Ende des 19. Jahrhunderts entscheidend vom Protestantismus geprägt blieb und im 16. Jahrhundert eine erste Blütezeit erlebte. Genf, das »protestantische Rom«, galt fortan als Mittelpunkt der französischen Protestanten. Auch Lausanne mit seiner 1537 gegründeten Akademie wurde bald zu einem geistigen Zentrum; der dort lehrende Beza schrieb für seine Studenten 1550 die erste Tragödie der französischen Literaturgeschichte, »Abraham sacrifiant«. Die kulturelle Autonomie der französischen Schweiz beruht bis heute darauf, dass diese das einzige eigenständige protestantische Gebiet der französischsprachigen Welt darstellt. Wesentliche kulturelle Einflüsse sind auch von den während der Religionskriege in die französische Schweiz geflüchteten Hugenotten ausgegangen.
 
Den zweiten Höhepunkt erlebte die Literatur der französischen Schweiz im 18. Jahrhundert. Das Werk J.-J. Rousseaus machte die Landschaften des Genfer Sees und der Walliser und Waadtländer Alpen zum Symbol einer neuen Sensibilität, die bereits auf die Romantik verwies. Die Gruppe europäischer Intellektueller um Madame de Stäel (B. Constant, A. W. Schlegel u. a.), die sich im Schloss Coppet traf, spielte als Bindeglied zwischen der französischen und der deutscher Kultur eine herausragende Rolle. Die französische Schweiz war im 18. Jahrhundert eines der Zentren der französischen Kultur und brachte bedeutende Gelehrte hervor: Jean-Pierre de Crousaz (* 1663, ✝ 1750), Samuel-Auguste Tissot (* 1728, ✝ 1797), Horace Bénédict de Saussure (* 1740, ✝ 1799). An diesem Geistesleben hatten die deutschsprachigen Schweizer Aristokraten, etwa die Berner A. von Haller, Beat Louis de Muralt (* 1665, ✝ 1748) und Charles Victor de Bonstetten (* 1745, ✝ 1832) ebenso teil wie viele europäische Schriftsteller, die sich - wie Voltaire, E. Gibbon u. a. - vorübergehend in der Westschweiz aufhielten.
 
In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts erwachte mit dem Helvetismus Philippe-Sirice Bridels (* 1757, ✝ 1845) ein schweizerisches Nationalgefühl, das in der Folge der Französischen Revolution in ein - häufig zugleich regionales und nationales patriotisches Bewusstsein mündete, repräsentiert z. B. durch den vielseitigen, mit Sainte-Beuve befreundeten Juste Olivier (* 1807, ✝ 1876). Diese kulturelle Verselbstständigung schuf im 19. Jahrhundert für die französischsprachigen Schriftsteller der Schweiz eine starke Spannung zwischen einem lokal aufgesplitterten und wenig tragfähigen Geistesleben und der literarischen Dominanz Frankreichs. So standen die westschweizerischen Schriftsteller, Maler und Musiker vor der Alternative, innerhalb der puritanischen, kunstfeindlichen Westschweiz ein geistiges Schattendasein zu führen oder aber, häufig um den Preis ihrer Identität, in der kulturellen Metropole Paris Karriere zu machen. Auf diesen Konflikt lassen sich unterschiedliche Reaktionen beobachten. So hinterließ der Genfer J.-F. Amiel unbeachtet ein bedeutendes, aber erst postum veröffentlichtes Tagebuch. Der Theologe und Literaturkritiker A. Vinet widmete sich v. a. seiner Lehrtätigkeit. Die Romanschriftsteller É. Rod und Rodolphe Samuel Cornut (* 1861, ✝ 1918) verbrachten einen großen Teil ihres Lebens in ständiger Auseinandersetzung mit dem Identitätskonflikt in Paris. Ihr Zeitgenosse Victor Cherbuliez (* 1829, ✝ 1899) integrierte sich hingegen so sehr in das französische Literaturleben, dass er heute kaum mehr als schweizerische Schriftsteller wahrgenommen wird. Eugène Rambert (* 1830, ✝ 1886) andererseits blieb mit seiner Alpenthematik der Schweiz nahe und deshalb außerhalb seines Landes unbekannt.
 
Anfang des 20. Jahrhunderts kam eine neue Generation westschweizerischer Schriftsteller und Künstler zu Wort, die das Geistesleben der französischen Schweiz revolutionieren und eine französischsprachige Schweizer Kultur schaffen wollte, die künstlerisch hoch stehend und weniger in der Thematik als in Stil und Ausdruck spezifisch schweizerisch sein sollte. Diese Gruppe, zu der u. a. C. F. Ramuz, G. de Reynold, Charles-Albert Cingria (* 1883, ✝ 1954), Edmond Gilliard (* 1875, ✝ 1969), aber auch der Maler R. Auberjonois und der Musiker E. Ansermet gehörten, äußerte sich v. a. in den Zeitschriften »La Voile latine« (1904-1909) und »Cahiers vaudois« (1913-1919) und schuf die Grundlage der gesamten folgenden französisch-schweizerischen Literatur des 20. Jahrhunderts Programmatisches Charakter hatte der Artikel »Raison d'être« von Ramuz in der ersten Nummer der »Cahiers vaudois«. In diesen und den nachfolgenden Zeitschriften veröffentlichten die meisten bedeutenden Autoren der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre ersten Werke, so die Dichter G. Roud, Edmond-Henri Crisinel (* 1897, ✝ 1948), Pierre-Louis Matthey (* 1893, ✝ 1970), M. Chappaz und die Romanciers Jacques Mercanton (* 1910, ✝ 1996), Alice Rivaz, Corinna Bille sowie der Essayist D. de Rougemont. In den 1950er- und v. a. den 1960er-Jahren erlebte die westschweizerische Literatur einen großen Aufschwung, der sich in der Entstehung eines dynamischen Verlagswesens und dem Interesse eines kleinen, aber aktiven Publikums äußerte. Heute ist die literarische Eigenständigkeit der französisch-schweizerischen Autoren im gesamten frankophonen Sprachraum unbestritten. So wurde der 1973 J. Chessex verliehene Prix Goncourt durchaus als Anerkennung der gesamten französischsprachigen schweizerischen Literatur verstanden. Der Neuenburger Romancier Yves Velan (* 1925) wird häufig als zum französischen Nouveau Roman zugehörig angesehen, und der Waadtländer P. Jaccottet gilt als einer der bedeutendsten französischsprachigen Dichter der Gegenwart. Auch wenn es schweizerische Schriftsteller gibt, die sich, dem Vorbild B. Cendrars folgend, literarisch in keiner Weise als Westschweizer betrachten, wie R. Pinget oder Jean-Luc Benoziglio (* 1941), so deuten doch weitaus mehr Autoren die ehemals konfliktreiche Konkurrenz zu Paris in schöpferischer Auseinandersetzung um, wie Philippe Monnier (* 1864, ✝ 1911), Georges Haldas (* 1917), Georges Borgeaud (* 1914), Nicolas Bouvier (* 1929, ✝ 1998) u. a. Der eigene Charakter der französisch-schweizerischen Literatur reicht heute weit über die lokale Thematik hinaus; in ihrer künstlerischen Originalität macht sich der Einfluss J.-J. Rousseaus oder der kalvinistischen Ethik bemerkbar, z. B. im Hang zur bekenntnishaften Innensicht, in der Bevorzugung des Ichromans und der Autobiographie, in der Naturlyrik und einem auffälligen, wenn auch nicht grundsätzlicher Verzicht auf politische und soziale Themen. Wichtige Autoren der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts sind der Lyriker und Essayist Vahé Godel (* 1931), der Lyriker Pierre Chappuis (* 1930), der Erzähler Jean-Marc Lovay (* 1948), der Essayist und Erzähler Yves Laplace(* 1958). International erfolgreich ist die aus Ungarn stammende Agota Kristof. Der Essayist É. Barilier erwarb sich große Verdienste um die Vermittlung der deutsch-schweizerischen Literatur im französischen Sprachraum.
 
 Italienischsprachige Literatur
 
Der größte Teil der italienischsprachigen Schweiz, das Gebiet des heutigen Tessins, geriet im 15. und 16. Jahrhundert nach und nach unter die Herrschaft der Eidgenossen; die schweizerische Eroberung veränderte jedoch nichts an der kulturellen Orientierung der Literaten in den wenigen kleinstädtischen Zentren. Im 16. und 17. Jahrhundert lebten in Lugano einige Humanisten wie Francesco Cicereio (* 1521/27, ✝ 1596) und der Reformator Paganino Gaudenzi (* 1595, ✝ 1648). Im 18. Jahrhundert erlangte Francesco Soave (* 1743, ✝ 1806) als Übersetzer der Idyllen von S. Gessner und als pädagogischer Schriftsteller große Bedeutung im italienischen Geistesleben. 1803 wurde die Region durch die Intervention Napoleons zu einem den anderen schweizerischen Kantonen gleichgestellten autonomen Staat im Staatenbund, später im Bundesstaat. Das neue Staatswesen, zunächst von Armut und Unterentwicklung geprägt, konnte auf einige bedeutende Politiker und politische Schriftsteller zählen, die geprägt waren vom aufklärerischen kosmopolitischen Mailand: Vincenzo D'Alberti (* 1763, ✝ 1849), erster Präsident der Tessiner Regierung, politischer Schriftsteller und Verfasser von Sonetten, Stefano Franscini (* 1796, ✝ 1857), erster Tessiner Bundesrat, einer der gewandtesten historisch-politischen Schriftsteller seiner Zeit, später der blendende Rhetoriker Carlo Battaglini (* 1812, ✝ 1888) und der Philosoph Romeo Manzoni (* 1847, ✝ 1912). Als Historiker wirkten Emilio Motta (* 1855, ✝ 1920) und Eligio Pometta (* 1865, ✝ 1950), als Danteforscher G. A. Scartazzini, als Sprachforscher Carlo Salvioni (* 1858, ✝ 1920), der 1907 das »Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana« begründete. Auf dem Gebiet der belletristischen Literatur entstand im Tessin des 19. Jahrhunderts kaum Nennenswertes, eine Vielzahl von Gelegenheitsgedichten für den Hausgebrauch, ferner die menschlich ergreifenden, aber ungelenken Berichte der Tessiner Emigranten aus aller Welt; literarisch bedeutender, aber dennoch beinahe unbekannt sind die Mundartsonette des in das Tessin geflüchteten italienischen Mazzini-Anhängers Francesco Scalini (* 1792) und die klassizistischen Verstragödien im Stil von A. Manzoni und G. Byron des nach Triest ausgewanderten Tessiners Antonio Caccia dem Jüngeren (* 1829, ✝ 1893). Auch im 20. Jahrhundert wirken viele Schriftsteller aus der italienischen Schweiz im Ausland, Enrico Filippini (* 1932, ✝ 1988) zwischen Mailand und Rom, Alice Ceresa (* 1923) in Rom; zur argentinischen Literatur gehört das Werk von Alfonsina Storni. Ein Erzähler eigener Art war Angelo Nessi (* 1873, ✝ 1932), ein später Vertreter der Mailänder Scapigliatura. Die Tessiner Literatur im eigentlichen Sinn beginnt mit F. Chiesa. Nach einem stürmischen Anfang, Kritik der Tessiner Selbstgenügsamkeit und Verteidigung der »Italianità« entwickelte er sich zum Haupt einer sprachlich-kulturell nach Italien und politisch-kulturell nach der Schweiz ausgerichteten Tessiner Literatur. Unter seinem Einfluss standen G. Zoppi, Piero Bianconi (* 1899, ✝ 1984), Erzähler und Kunstwissenschaftler, sowie der Erzähler und Literaturwissenschaftler Guido Calgari (* 1905, ✝ 1969), der die Kulturzeitschrift »Svizzera italiana« (1941-62) gründete und in seinem Festspiel »Sacra terra ticinese« (1939) einem schweizerisch geprägten Tessiner Patriotismus Ausdruck gab. Eine Brückenfunktion zwischen deutscher und italienischer Kultur hat das Tessin eigentlich nie wahrgenommen, obwohl sich hier immer wieder deutsche und deutschschweizerische Schriftsteller wie H. Hesse oder später A. Andersch und M. Frisch niederließen. Nach dem Ende des italienischen Faschismus wuchs der kulturelle Einfluss Italiens langsam wieder an. Der Erzähler und Maler Felice Filippini (* 1917, ✝ 1988) sowie Carlo Castelli (* 1909, ✝ 1982) folgten dem Vorbild E. Vittorinis, in der Lyrik ist der Einfluss von E. Montale spürbar bei Giorgio Orelli; zeitkritische Romane und Erzählungen wie in der deutschschweizerischen Literatur der 1960er-Jahre schrieb Giovanni Orelli, mit spezifisch tessinischer Problematik Plinio Martini (* 1923, ✝ 1979). Einen persönlichen Stil pflegen die beiden Erzähler und Essayisten Adolfo Jenni (* 1911, ✝ 1997) und Giovanni Bonalumi (* 1920), einen experimentellen Roman (»Carta d'autunno«, 1973) verfasste Grytzko Mascioni (* 1936). Neue Stimmen der erzählenden Literatur sind Arnaldo Alberti (* 1936) in der Nachfolge der kritischen Heimatliteratur Martinis, Aurelio Buletti (* 1946), Elda Guidinetti (* 1941) und Fabrizio Scaravaggi (* 1955) in avantgardistischer Tradition.
 
Als Lyriker machten sich neben Giorgio Orelli v. a. Valerio Abbondio (* 1891, ✝ 1958), Ugo Canonica (* 1918), Angelo Casè (* 1936), Remo Fasani (* 1922), Ugo Frey (* 1924), Alberto Nessi (* 1940) und Amleto Pedroli (* 1922) einen Namen, von der jüngeren Generation Fabio Cheda (* 1944), Buletti, Gilberto Isella (* 1943) und Fabio Pusterla (* 1957). Lyrik in Mundart schrieben Alina Borioli (* 1887, ✝ 1965) und Giovanni Bianconi (* 1891, ✝ 1981), Bruder von Piero Bianconi, neuere Dialektliteratur stammt von Giovanni Orelli und Gabriele Alberto Quadri (* 1950).
 
Bündnerroman. Literatur Bündnerromanisch.
 
 
Allgemeine Darstellungen:
 
G. Calgari: Die vier Lit. der Schweiz (a. d. Ital., Olten 1966);
 
Le quattro letterature della Svizzera nel secolo di Chiesa, hg. v. M. Agliati (Lugano 1975);
 
Kindlers Literaturgesch. der Gegenwart, Bd. 7 u. 8: Die zeitgenöss. Lit. der Schweiz, hg. v. M. Gsteiger (Neuausg. 1980);
 
Helvet. Steckbriefe, hg. v. W. Weber (Zürich 1981);
 
Die viersprachige Schweiz, hg. v. R. Schläpfer (ebd. 1982);
 
Modern Swiss literature, hg. v. J. L. Flood (London 1985);
 
Schriftstellerinnen u. Schriftsteller der Gegenwart: Schweiz, bearb. v. O. Böni u. a. (Aarau 1988);
 
Lit. geht nach Brot. Die Gesch. des Schweizer. Schriftsteller-Verbandes, bearb. v. O. Böni: u. a. (ebd. 1989);
 B. Wenger: Die vier Lit. der Schweiz (Zürich 41988);
 C. Linsmayer: Lit.-Szene Schweiz (ebd. 1989);
 
Lex. der Schweizer Lit., hg. v. P.-O. Walzer (Basel 1991);
 
Die Lit. der Schweiz, Beitrr. v. I. Camertin u. a. (Basel 1992);
 
Grenzfall Lit. Die Sinnfrage in der modernen Lit. der viersprachigen Schweiz, hg. v. J. Bättig u. S. Leimgruber (Freiburg 1993);
 
Die vier Lit. der Schweiz, Beitrr. v. I. Camartin u. a. (Zürich 1995).
 
Deutschsprachige Literatur:
 
R. Weber u. J. J. Honegger: Die poet. Nationallit. der dt. Schweiz, 4 Bde. (1866-76);
 
R. Faesi: Gestalten u. Wandlungen schweizer. Dichtung (Zürich 1922);
 
J. Nadler: Der geistige Aufbau der dt. Schweiz. 1798-1848 (Frauenfeld 1924);
 
J. Nadler: Literaturgesch. der dt. Schweiz (Zürich 1932);
 
E. Ermatinger: Dichtung u. Geistesleben der dt. Schweiz (1933);
 
Heißt ein Haus zum Schweizerdegen. Tausend Jahre dt.-schweizer. Geistesleben, hg. v. E. Stickelberger, 2 Bde. (Olten 1939);
 
Geisteserbe der Schweiz, bearb. v. E. Korrodi (Erlenbach 21943);
 
A. Zäch: Die Dichtung der dt. Schweiz (Zürich 1951);
 
D. Fringeli: Dichter im Abseits. Schweizer Autoren von Glauser bis Hohl (ebd. 1974);
 
D. Fringeli: Von Spitteler zu Muschg. Lit. der dt. Schweiz seit 1900 (Basel 1975);
 
Expressionismus in der Schweiz, hg. v. M. Stern, 2 Bde. (Bern 1981);
 
Antworten. Die Lit. der dt.-sprachigen Schweiz in den achtziger Jahren, hg. v. B. von Matt (Zürich 1991);
 
Gesch. der dt.-sprachigen Schweizer Lit. im 20. Jh., hg. v. K. Pezold (1991);
 
D. Stump u. a.: Dt.-sprachige Schriftstellerinnen in der Schweiz: 1700-1945. Eine Bibliogr. (Zürich 1994).
 
Französischsprachige Literatur:
 
P. Godet: Histoire littéraire de la Suisse française (Paris 1890);
 
V. Rossel: Histoire littéraire de la Suisse romande, 3 Bde. (Neuenburg 1903, Nachdr. Lausanne 1990);
 
A. Berchtold: La Suisse romande au cap du XXe siècle (ebd. 1963);
 
J. Altwegg: Leben u. Schreiben im Welschland (Zürich 1983);
 
Dictionnaire des littératures suisses (Lausanne 1991);
 
Histoire de la littérature en Suisse romande, hg. v. R. Francillon, 2 Bde. (ebd. 1996-97).
 
Italienischsprachige Literatur:
 
Scrittori della Svizzera italiana, 2 Bde. (Bellinzona 1936);
 
Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana, hg. v. S. Sganzini, auf mehrere Bde. in zahlr. Lfg. ber. (Lugano 1965 ff.);
 
G. Orelli: Svizzera italiana (Brescia 1986);
 
G. Orelli: La Svizzera italiana, in: Letteratura italiana, hg. v. A. A. Rosa u. a., Bd. 7: Storia e geografia, Tl. 3: L'età contemporanea (Turin 1989);
 
G. Bonalumi: Il pane fatto in casa. Capitoli per una storia delle lettere nella Svizzera italiana e altri saggi (Bellinzona 1988);
 
Lingua e letteratura italiana in Svizzera, hg. v. A. Stäuble (ebd. 1989).

Universal-Lexikon. 2012.

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